Große Beschwerdekammer des EPA klärt in G 1/23 den „Stand der Technik“ für vermarktete Produkte

Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) hat ihre mit Spannung erwartete Entscheidung G 1/23 veröffentlicht, die erhebliche Auswirkungen auf die Beurteilung des „Standes der Technik” für bereits auf dem Markt befindliche Produkte hat, insbesondere im Hinblick auf die sogenannte „Ausführbarkeitsvoraussetzung”.

Wichtigste Erkenntnisse aus G 1/23:

Die Große Beschwerdekammer hat zwei entscheidende Punkte klargestellt:

  • Ein vor dem Anmeldetag einer europäischen Patentanmeldung in Verkehr gebrachtes Produkt kann nicht allein deshalb vom Stand der Technik (im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ) ausgeschlossen werden, weil seine Zusammensetzung oder sein innerer Aufbau vor diesem Zeitpunkt vom Fachmann nicht analysiert und reproduziert werden konnte. Das bedeutet, dass das physische Produkt selbst, so wie es der Öffentlichkeit zugänglich ist, als Stand der Technik gilt.
  • Technische Informationen über ein solches Produkt, die der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag zugänglich gemacht wurden, gehören zum Stand der Technik, unabhängig davon, ob der Fachmann das Produkt und seine Zusammensetzung oder innere Struktur vor diesem Zeitpunkt analysieren und reproduzieren konnte.

Warum erfolgte diese Änderung?

Die Große Beschwerdekammer lehnte frühere Auslegungen des aus G 1/92 abgeleiteten „Reproduzierbarkeitserfordernisses“ ab, wonach ein Produkt reproduzierbar sein muss (d. h. aus verschiedenen Ausgangsstoffen hergestellt und nicht nur vom Markt wiederbeschafft werden kann), um Stand der Technik zu sein. Die Kammer befand, dass ein solches Erfordernis zu „absurden Ergebnissen“ führt, da praktisch kein Material in der physischen Welt letztlich als Stand der Technik gelten würde, da alle Materialien auf inhärent nicht reproduzierbaren Ausgangsstoffen (z. B. chemischen Elementen, Rohöl) beruhen. Die Entscheidung betont, dass sich der „Stand der Technik“ auf den abstrakten technischen Lehr- oder Informationsgehalt bezieht, der, sobald er öffentlich ist, nicht verschwindet, selbst wenn das physische Produkt verschwindet.

Praktische Auswirkungen auf die Bewertung des Stands der Technik: Diese Entscheidung bietet mehr Klarheit und einen pragmatischeren Ansatz.

  • Neuheit (Artikel 54 (2) EPÜ):
    • Da nicht reproduzierbare Produkte und ihre analysierbaren Merkmale nun eindeutig zum Stand der Technik gehören, kann ein später patentiertes Produkt nicht als neu angesehen werden, wenn alle seine beanspruchten Merkmale durch ein früher verfügbares Produkt offenbart wurden – selbst wenn dieses frühere Produkt für den Fachmann nicht reproduzierbar war.
    • Das Konzept der „zufälligen Vorwegnahme” bleibt jedoch relevant, d. h., selbst nicht verwandte oder entfernte Teile des Stands der Technik können nicht ignoriert werden, wenn sie die Erfindung offenbaren.
  • Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ):
    • Nicht reproduzierbare Produkte gehören inzwischen zum Stand der Technik. Ihre offenbarten, aber nicht reproduzierbaren Merkmale können bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden – müssen es aber nicht.
    • Ein nicht reproduzierbares Produkt kann dennoch als nächstliegender Stand der Technik oder als Quelle ergänzender technischer Lehren angesehen werden, die sich für eine Kombination eignen.
    • Bei der Entscheidung, ob der Fachmann das Produkt bei der Lösung eines technischen Problems als relevanten Stand der Technik betrachten würde, kann die Unmöglichkeit, eine wichtige Eigenschaft des Produkts zu reproduzieren, berücksichtigt werden. Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit kann es triftige Gründe geben, bestimmte Aspekte des Stands der Technik zu vernachlässigen, beispielsweise unzureichende Informationen.
    • Was ist „verborgen” und was ist „zugänglich gemacht”? Die seit langem geltenden Grundsätze aus G 2/88 und G 6/88 bleiben gültig: Was „der Öffentlichkeit zugänglich gemacht” wurde, ist in jedem Fall eine Tatsachenfrage. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Informationen, die tatsächlich zugänglich gemacht wurden, und Informationen, die verborgen bleiben oder nicht zugänglich gemacht wurden. Entscheidend ist, dass „das, was verborgen ist, dennoch offensichtlich sein kann”.
  • Technische Informationen:
    • Technische Dokumentationen (z. B. Broschüren, Patent- oder Nichtpatentliteratur) zu einem vermarkteten Produkt gehören eindeutig zum Stand der Technik, unabhängig von der Reproduzierbarkeit des Produkts. Alle analysierbaren Eigenschaften des Produkts werden aufgrund seiner physischen Zugänglichkeit gemeinfrei.
  • Beweis:
    • Die Große Beschwerdekammer stellt klar, dass Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der Eigenschaften eines Produkts zu einem späteren Zeitpunkt (z. B. wenn es nicht mehr verfügbar ist) Probleme hinsichtlich des Nachweises und der Beweisführung für die Parteien darstellen und kein Grund sind, es vollständig aus dem Stand der Technik auszuschließen.

Diese wegweisende Entscheidung passt den Rechtsrahmen an die technische Praxis an und stellt sicher, dass öffentlich verfügbare Produkte bei der Beurteilung der Patentierbarkeit angemessen berücksichtigt werden.

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